nocturnal rant XIII: anno domini 2006, berlin, germany
Es gibt Nächte voller Fragen, in denen nur die Gespräche mit Freunden und Bekannten für das überlebensnotwendige Stückchen Bodenhaftung sorgen können. Zweiundvierzig Lebensjahre, die man mir nicht ansieht, die ich normalerweise nicht fühle. Im Kokon aus Arbeit und Freunden schon gar nicht. Schaue ich mich aber um, werden die Dinge schwierig ...
Die Welt und ich haben uns durchaus im gleichen Tempo gedreht und verändert. Weder erblindet noch verdummt, war ich doch immer mit im Spiel. Und fühle nun zum ersten Mal, daß dies mein Spiel nicht mehr ist.
- Die Politik höhlt die hart erkämpfen Bürgerrechte aus. Und niemand schreit.
- Die Wirtschaft benutzt und mißbraucht die 'human resources' bis zum Erbrechen. Und nur wenige flüstern Aufbegehren.
- Der 'Sozialstaat' ist zum Ausbeuter Nummer eins geworden. Und niemand schreit
- Die Industrie setzt trotz fetter schwarzer Zahlen 'Arbeitskräfte frei'. Und nur wenige flüstern Aufbegehren.
- Rentenanrechnungszeiten werden still und leise gelöscht. Und niemand schreit.
- Die Klassengesellschaft ist längst Realität. Und niemand schreit.
Und dann im kleineren Kreis:
- Ich versuche deinen Kerl zu ficken, weil ich wissen möchte, ob ich einen Ehemann aus seiner Ehe lösen kann. Reine Neugier. No hard feelings, please.
- Ich versuche dir den laufenden Auftrag abzunehmen, weil ich glaube, daß ich das kann.
- Ich esse an deinem Tisch, und werde dir dennoch bedenkenlos über dich hinweggehen, wenn ich glaube, daß mir das nützt.
- Ich habe einmal gewußt, wie man Loyalität schreibt. Nun ist es mir hinderlich, und ich werde es bedenkenlos vergessen.
- Ich habe keinerlei Probleme mit geistiger Inzucht. Impulse? Wozu? Solange mir dieses Menschenmaterial die Selbstbestätigung gibt, die ich haben will, ist alles in Ordnung - wer braucht Horizonte?
Die Vogonen sind bereits über uns gekommen. Aus unserer eigenen Spezies. Auf den feindlichen Angriff der Aliens zu warten ist längst obsolet geworden.
Ich lebe das einzige Leben das ich habe, unter Vorgaben, die ich mir nicht gewünscht habe. So sind auch diese Auflistungen nicht unbedingt als meine persönlichen Erfahrungen zu verstehen, sondern beziehen sich auf eine Entwicklung, die ich seit Jahren beobachte. Eben dieser Entwicklung werde ich mit aller Kraft entgegentreten wo immer mir das möglich ist. Und daran scheitern. Notwendig. Und mit Stolz.
Ich bin ein Dinosaurier. Und nicht allein.