Über Streckennetze und Netzwerke
Eigentlich haben wir gar keine Lust schon nach Berlin zurückzufahren. Auf den Fenstern liegt der Wind in schweren Böen, drinnen prasselt gemütlich der Ofen, und es heißt, es könnte verflixt stürmisch werden. Die Schwiegermutter jedoch wirkt unruhig, hat für Freitag jemanden zum Kaffee eingeladen, außerdem den Kopf schon voller Pläne für die weitere Renovierung des gerade bezogenen Hauses. Auf meine Andeutung, man könnte ja noch zwei Tage dranhängen, reagiert jedenfalls niemand.
Am Bahnhof Westerland weht eine steife Brise, man hat da aber schon mehr erlebt und ist nicht beunruhigt. Die Chancen noch nach Hause zu kommen, ehe es losbricht, stehen gut; es ist ein durchgehender schneller Zug. Lesend, teetrinkend, durchaus behaglich, rollt man durch einen grauen Tag, mit dem Gefühl des gerade noch Davongekommenen.
Zu früh gefreut. »Verehrte Fahrgäste, dieser Zug endet heute in Hamburg, Hauptbahnhof. Wir verfügen über keinerlei Informationen über Ihre weiteren Reisemöglichkeiten. Bitte wenden Sie sich an das Servicepersonal in Hamburg.« Später erfahre ich, daß zum Zeitpunkt dieser Durchsage bereits das gesamte Streckennetz geschlossen worden war.
In Hamburg stehen wir fast zwei Stunden am Servicepoint an. Nur zwei von vier möglichen derselben sind überhaupt besetzt, die Schlangen davor haben das Ausmaß sehr, sehr großer Anacondas. Die Auskunft, die wir bekommen, ist kurz, sehr ruppig: »Ihre Tickets gehen uns nichts an, wenden Sie sich an den großen Kaffeeröster. Und lösen Sie morgen zwei neue Tickets Hamburg-Berlin.« Na toll. Verdammt teurer Spaß wird das. Und wenn die sich auf höhere Gewalt berufen, warum darf ich das dann, die Gültigkeit der Tickets betreffend, nicht ebenso?
Zwischendurch rufe ich Herrn Paulsen an: »Sag' mal, magst du vielleicht zwei Gestrandete bis morgen aufnehmen?« frage ich. Herr Paulsen versteht mich falsch, glaubt, ich wolle ihm zwei völlig Fremde schicken, zögert deshalb sehr kurz, und bittet dann, die Gefährtin vorwarnen zu dürfen. Er selbst nämlich, er sei seinerseits in Göttingen gestrandet, ob ich dort jemanden wüßte? »Ich frage Isabo« sage ich. »Ich glaube, sie weiß da jemanden.« Als ich Isabo erreiche, hat er schon mit ihr gesprochen, die Vermittlung ist eingeleitet. Immerhin kann ich sie nun mit uns beiden Asylsuchern belästigen. Die Gefährtin von Herrn Paulsen kennt uns noch nicht; er, der uns kennt, wird nicht anwesend sein, da ist die Unruhe, man könnte jemanden noch mehr als ohnehin schon zur Last fallen und womöglich in seiner Fremdheit ein echter Fremdkörper sein, ein recht hoher Zaun. Isabo sagt »Na klar!« und »Der Mann nickt auch. Soll ich noch was kochen?« Kichern, lachen. Ich halte das für einen Scherz, immerhin ist es schon fast neun. Es wird sich bald herausstellen, daß es kein Scherz war. Wenigstens kann ich - zum allgemeinen Gelächter - noch Brot zur köstlichen Suppe beisteuern, das für das Frühstück in Berlin gedacht gewesen war. Der Mann empfielt sich sehr spät ins Bett, um acht fängt für ihn der Arbeitstag an. Ich bin die nächste, die auf das wunderbare Gästesofa verschwindet, fröhlich, hundemüde und rosétrunken. Es muß wohl, erzählt Isabo am nächsten Morgen, der längst keiner mehr ist, so etwa sechs gewesen sein, als sie sich zu dem Ihren legte und der Meine sich zu mir. Eine lustige wunderschöne Nacht, die man uns auch deutlich ansieht. Alle sind guter Dinge und ein wenig angeschlagen. Isabos Liebster findet uns beim 'Frühstück', es ist fast zu gemütlich, wir hocken noch eine ganze Weile beim Kaffee. Irgendwann sage ich: »Wir hatten um Asyl für eine Nacht gebeten, von 'Einziehn' war nie die Rede.« Aufbruch also.
Der Bahnhof sieht nicht mehr so sehr nach Notstandsgebiet aus wie in der Nacht, die Züge dafür um so mehr. Rappelvoll mit genervten übermüdeten Menschen, sieht der erste Zug eher nach Viehtransport aus, wir lassen ihn fahren. Der nächste wirkt nicht viel anders, aber nun sind wir es wirklich leid, den nehmen wir. Glück gehabt - Sitzplätze im Speisewagen. Service ist unmöglich, es wäre kaum ein Durchkommen. Das Serviceteam ist glücklich über die ruhige Kugel, die ganze Fahrt über hören wir sie hinter uns lachen und scherzen. Überraschung: Die Schaffnerin schreibt uns die Tickets gültig. In Berlin wird man ohne hin und her unsere neugekauften Tickets zur Rückerstattung nehmen. In drei oder vier Wochen werden wir uns nochmal sehr an Kyrill und die Nacht, in der die halbe Republik irgendwo strandete, erinnern. Dann wird dieses Geld auf dem Konto ankommen.
Einen lieben Dank nochmal an unsere Gastgeber für die liebevolle Rundumversorgung, und auch an unsere Gastgeberin in spe, für das schöne Telefonat und die Bereitschaft zwei ganz und gar Unbekannten ein Nachtlager zu geben.
Nicht zu vergessen der dicke Dank an die Freundin, die Katzen und Wohnung vorbildlich hütete, und sogar die Blumenkästen vor dem Sturm in Sicherheit brachte.
Ihr seid klasse. Alle.